LUKULL

Skeptisch philosophieren

Die Wirklichkeit der Wirklichkeit

Basel, 02.11.18
Dr. phil. Ulla Schmid


Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Frage scheint sich in der Rede vom „postfaktischen Zeitalter“ zu stellen. Hier erscheint sie in der Frage: „Gibt es noch Tatsachen oder vielmehr nur noch Meinungen?“ Zu den Meinungen später, zunächst zu den Tatsachen.

Also: Gibt es noch Tatsachen? Insofern die Wirklichkeit die Gesamtheit der Tatsachen ist und es die Wirklichkeit auszeichnet, wirklich zu sein, ist diese Frage trivial, wenn nicht gar unsinnig: Ist die Wirklichkeit wirklich, so ist es auch die Gesamtheit der Tatsachen. Und gehört jede Tatsache zur Gesamtheit der Tatsachen, so ist auch jede einzelne Tatsache wirklich. Wenn der Satz ‚es gibt x’ soviel heißt wie ‚x ist wirklich’, so ist die Sachlage klar: Es gibt Tatsachen, sofern die Wirklichkeit wirklich ist, und dass sie es ist, ist ihr grundlegendes Merkmal. Also gibt es Tatsachen. Wirklich. Ende der Diskussion.

Was machen wir nun mit der Ausgangsfrage? Wenn sie schon – wörtlich genommen – in eine Reihe von Trivialitäten mündet und damit, streng philosophisch genommen, unsinnig ist, so kann es ja doch Sinn ergeben, sie zu stellen. In der Frage „gibt es noch Tatsachen, oder vielmehr nur noch Meinungen?“, in der sich die Frage nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit verbirgt, wird als Gegenbegriff zu ‚Tatsachen’ der Begriff ‚Meinungen’ verwendet. Der Begriff ‚Meinung’ steht in einer Reihe von Begriffen, die man, grob gesagt, mit dem Ausdruck ‚sich etwas als wirklich vorstellen’ umschreiben kann, so wie die Begriffe ‚Wissen’, ‚Erkenntnis’, ‚Gewissheit’, ‚Überzeugung’ oder ‚Annahme’. Der Begriff ‚Meinung’ bezieht sich auf eine Stellungnahme bezüglich dessen, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten – was (Tat-)Sache ist. Dabei steht er den Begriffen ‚Gewissheit’ und ‚Annahme’ näher als ‚Wissen’ oder ‚Erkenntnis’ und ist verwandt mit dem Begriff ‚Überzeugung’ und ‚Behauptung’.

Das wesentliche Merkmal von ‚Wissen’ oder ‚Erkenntnis’ ist, dass in diesen Begriffen nicht nur vorgestellt wird, wie die Tatsachen sein könnten, sondern dass diese Vorstellungen den Tatsachen auch entsprechen. Ein Satz, der etwas Gewusstes oder Erkanntes wiedergibt, ist wahr in dem Sinn, dass es sich in Wirklichkeit so verhält, wie der Satz es sagt. Wissen oder Erkenntnis sind an die Wirklichkeit gebunden: Ein falscher Satz kann nicht Äußerung von Wissen oder Erkenntnis sein, ein als Wissen oder Erkenntnis geltender Satz ist es nicht mehr, wenn er sich als falsch herausstellt. In diesen Fällen hat man eben nicht ‚gewusst’ oder ‚erkannt’, sondern nur geglaubt (bzw. zu wissen geglaubt). Eine Meinung zielt zwar auch auf die Wirklichkeit ab, trifft aber nur eine Annahme darüber, was Sache ist. Sie kann der Wirklichkeit entsprechen oder sie verfehlen (dann ist sie eine falsche oder irrige Meinung). Eine Meinungsäußerung gibt eine Vorstellung der Wirklichkeit wieder und ist, könnte man sagen, damit zufrieden. Sie kommt zwar nicht ohne Wirklichkeitsbezug, aber ohne Wirklichkeitsentsprechung aus.

Anders als Meinungen und Gewissheiten müssen Wissen und Erkenntnis zudem wohlbegründet sein in dem Sinne, dass es gute Gründe sind, auf die sie sich stützen. Was als guter Grund gilt, ist von Fall zu Fall verschieden: Manchmal ist es die (eigene) Erfahrung, manchmal eine Schlussfolgerung, manchmal das, was eine Autorität sagt, manchmal ein Experiment. In jedem Fall muss die Begründung für andere nachvollziehbar sein und anerkannt sein, dass die Begründung den Satz, der Wissen oder Erkenntnis ausdrücken soll, auch begründen kann. Eine Meinung bedarf weder der Gründe noch der Zustimmung anderer. Sie kann zwar mit den Meinungen anderer übereinstimmen und von ihnen beeinflusst sein, ist aber primär eine individuelle Angelegenheit, für die es noch dazu gleichgültig ist, ob sie nachvollziehbar oder gar einleuchtend ist. Während man jemandem absprechen kann, etwas zu wissen, wenn die Gründe dafür nicht einsichtig sind, kann man zwar eine Meinung als grundlos oder irrig kritisieren, sie aber nicht als solche infrage stellen.

Die Entgegenstellung der Begriffe ‚Tatsache’ und ‚Meinung’ ist insofern eine Verkürzung, als dass dem Begriff ‚Meinung’ ein Tatsachenbezug innewohnt. Präziser formuliert wird hier auf einen Gegensatz von zwei Arten von Äußerungen Bezug genommen, nämlich von Tatsachenäußerungen und Meinungsäußerungen. Der Gegensatz besteht zwischen Sätzen, die Ausdruck von Wissen sind und damit für die Wirklichkeit der Tatsache bürgen, die sie ausdrücken, und Sätzen, die zwar an der Wirklichkeit orientiert und auch interessiert sind, für die jedoch die Tatsächlichkeit ihres Inhalts zweitrangig oder auch gleichgültig ist. Die dahingehend umformulierte Ausgangsfrage – „gibt es noch Tatsachenäußerungen oder vielmehr nur noch Meinungsäußerungen?“ – fragt sowohl nach dem Stellenwert von Äußerungen mit Wirklichkeitsbezug als auch nach dem Stellenwert des Wirklichkeitsbezugs von Äußerungen, die innerhalb eines politischen, wissenschaftlichen oder anderweitigen Kontextes geäußert werden. Die Rede vom ‚postfaktischen Zeitalter’ und die Frage ‚gibt es noch Tatsachen?’ sind irreführend, denn es ist nicht die Tatsächlichkeit der Wirklichkeit, die hier zur Debatte steht: Die Debatte betrifft vielmehr die Frage, welche Tatsachen denn wirklich sind, welche Sätze als Wissensäußerungen qualifizieren und welche Sätze dagegen ‚nur’ Meinung ausdrücken. Damit steht auch infrage, welche Begründungen, Schlussfolgerungen und Prüfungsverfahren von Sätzen, die Tatsachen auszudrücken behaupten, Gültigkeit besitzen, was also die Bedingungen sind, unter denen eine Aussage als Wissensäußerung gilt. Denn nur, wenn eine Aussage als solche anerkannt ist, kann aus der Aussage auf das Bestehen einer bestimmten Tatsache und damit auf die Wirklichkeit geschlossen werden. Die Auseinandersetzung darum, welche Aussagen Wissens- und welche Meinungsäußerungen sind, ist im Grunde eine Auseinandersetzung um Geltungsansprüche und zwar von Aussagen ebenso wie von Verfahren zur Aufstellung, Begründung und Überprüfung von Aussagen. In dieser Auseinandersetzung geht es letztlich (auch) darum, wer die Autorität hat, Wissensäußerungen zu treffen und darüber zu befinden, welche Äußerungen Wissen, welche dagegen Meinung ausdrücken – welche der Äußerungen also, die Anspruch auf Wirklichkeitsentsprechung erheben, der Wirklichkeit tatsächlich entsprechen.

Die Ausgangsfrage selbst – „gibt es noch Tatsachen oder vielmehr nur noch Meinungen?“ –verweist im gleich doppelten Erscheinen des Wortes ‚noch’ auf eine Veränderung bezüglich dessen, welche Kriterien gelten, nach denen die Tatsächlichkeit einer Aussage beurteilt wird, welche Instanzen es sind, denen dies obliegt, und welche Autoritäten als dazu berechtigt akzeptiert werden. Die Frage verweist darauf, dass sich der Stellenwert bestimmter Aussagen verändert und überhaupt verändern kann – von Aussagen, die bislang als Wissensäußerungen galten, zu Aussagen, die nunmehr als Meinungsäußerungen unter anderen stehen, die ebenfalls Anspruch auf den Status als Wissensäußerungen erheben, und es sich erst erweisen muss, welche (das) Recht haben, die in ihr vorgestellten Tatsachen für wirklich wahr zu nehmen. Die Ausgangsfrage verweist darauf, dass Wissensäußerungen stets die Möglichkeit des Zweifels in sich tragen, des Zweifels an der Wahrheit ihres Inhalts, der sich mithilfe anerkannter Begründungsverfahren ausräumen lässt, wie auch des Zweifels an ihrer Gültigkeit, der einen Zweifel an ihrer Begründung selbst miteinschließt.

Viel grundlegender noch fragt die Ausgangsfrage nicht nur nach der Wirklichkeit dieser oder jener Aussage, sondern nach dem Wirklichkeitsbezug von Äußerungen überhaupt. Sie fragt danach, ob es Meinungsäußerungen überhaupt um das Treffen einer Aussage bezüglich dessen, wie es tatsächlich um die Wirklichkeit steht, geht. Sie fragt danach, ob Äußerungen, die eine solche Aussage zu machen scheinen, indem sie sich ganzer Sätze bedienen, einen Anspruch auf Entsprechung mit der Wirklichkeit erheben, oder ob es nicht vielmehr darum geht, sich zu äußern – eine Angelegenheit, die mit der getätigten Äußerung abgeschlossen wäre. Auch wenn der Meinung ein Wirklichkeitsbezug innewohnt, so ist sie gleichgültig gegenüber der tatsächlichen Wirklichkeit, sie stellt sich die Wirklichkeit vor, sich ihr aber nicht nach. Sie bezieht Stellung demgegenüber, wie sich die Tatsachen in Wirklichkeit verhalten, ohne die von ihr vorgestellte Wirklichkeit daran zu binden, wie es um die Tatsachen wirklich steht. Eine Meinungsäußerung kann die Stellungnahme ins Zentrum stellen, ohne dass es ihr um die so zum Ausdruck gebrachte Vorstellung der Wirklichkeit tatsächlich ginge. Eine Meinungsäußerung in diesem Sinne bedient sich zwar eines Aussagesatzes, der scheinbar eine Tatsache als Wirklichkeit vorstellt, stellt aber in Wirklichkeit nicht eine Vorstellung als Tatsache vor, sondern zeigt die Stellung an, die in ihr bezogen wird, oder dass mit ihr überhaupt Stellung bezogen wird. Eine Meinungsäußerung in diesem Sinne behauptet ihre Unabhängigkeit gegenüber der Wirklichkeit auf zwei Ebenen: Ist schon der Wirklichkeitsbezug der Meinung unabhängig von der tatsächlichen Wirklichkeit, so ist ihre Äußerung unabhängig von ihrem eigenen Wirklichkeitsbezug, unabhängig von der Tatsächlichkeit – der Wirklichkeit – der Wirklichkeit. Auch einer solchen Meinungsäußerung geht es jedoch nicht eigentlich um die Wirklichkeit der Wirklichkeit. Der Aussagesatz dient ihr in Wirklichkeit als Instrument der Äußerung, nicht die Äußerung als Instrument der ausgesagten Vorstellung der Wirklichkeit. Nicht wie die Vorstellung der Tatsachen beschaffen ist, sondern dass sie ist, nicht welche Stellung gegenüber der Wirklichkeit geäußert wird, sondern dass sie geäußert wird, dass da jemand ist, der oder die sich äußert – darum geht es. Die Meinungsäußerung trägt hier nicht zu einer Auseinandersetzung über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, über die Wirklichkeit dieser oder jener Tatsachen, sondern zu einer Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung willen bei. Je schärfer die Formulierung des Aussagesatzes, dessen sie sich bedient, je provozierender der Sachverhalt, den sie als Tatsache vorzustellen vorgibt, je abseitiger die Stellung, die sie bezieht, desto vielversprechender die Meinungsäußerung als Äußerung, als Vehikel nicht des Anspruchs auf Richtigkeit der eigenen Stellungnahme, sondern des Anspruchs auf das Recht der eigenen Stellungnahme, Gehör zu finden, auf das Recht, überhaupt Stellung zu beziehen. Einer solchen Meinungsäußerung fehlt die Bezugnahme auf die Wirklichkeit und damit auch auf die Frage, inwiefern die Wirklichkeit denn nun wirklich ist und welche Vorstellungen der Wirklichkeit den Tatsachen tatsächlich entsprechen. 

Die Rede vom postfaktischen Zeitalter und die Frage nach der Wirklichkeit der Tatsachen, die sich in der philosophischen Wiederaufnahme der Frage wiederfindet, ob der Realismus realistisch ist, lenken davon ab, dass es in der Frage „gibt es noch Tatsachen oder vielmehr nur noch Meinungen?“ in Wirklichkeit nicht um die Tatsächlichkeit der Wirklichkeit geht. Die Frage fragt tatsächlich nach den Bedingungen der Auseinandersetzung über die Wirklichkeit. Sie verweist darauf, dass sowohl die Wahrheits- als auch die Gültigkeitsbedingungen für für wahr genommene Vorstellungen der Wirklichkeit eine fragliche Angelegenheit sind. Sie erinnert daran, dass der Wirklichkeitsbezug in Aussagesatzform daherkommender Meinungsäußerungen kein tatsächlicher sein muss, sondern ein in Wirklichkeit nur scheinbarer sein kann. Die Frage zu stellen bedeutet, dass die Unterscheidbarkeit von Wissens- und Meinungsäußerungen wie auch von Äußerungen mit und ohne Wirklichkeitsbezug infrage steht. Die Frage als auf die Wirklichkeit der Wirklichkeit bezogen zu deuten heißt, ihre Grundsätzlichkeit zu verkennen, zu verwischen, dass sie eine Auseinandersetzung über die Grundsätze der sprachlichen – und damit auch der politischen – Auseinandersetzung über die Tatsächlichkeit und den Geltungsbereich von Stellungnahmen dazu anzeigt, wie sich die Tatsachen in Wirklichkeit verhalten, was wirklich Sache ist. Der Gegenstand dieser Auseinandersetzung sind die Bedingungen der Auseinandersetzung selbst, die Frage fragt nach der Möglichkeit dieser Auseinandersetzung, nicht nach der Möglichkeit der Tatsächlichkeit der Wirklichkeit.

Die Frage nach Wirklichkeit der Wirklichkeit hingegen stellt sich überhaupt nur im Wahn, im Rausch oder Delir – und hier auch nur, insofern es ein Anliegen, und in diesem Sinne sinnvoll, ist, zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit der eigenen Vorstellungen der Wirklichkeit zu unterscheiden; insofern es sinnvoll ist oder sein kann, zu fragen, ob die eigenen Vorstellungen der Wirklichkeit ihre Tatsächlichkeit verbürgen, von der Wirklichkeit tatsächlich gedeckt sind; insofern es sinnvoll ist, überhaupt eine Unterscheidung zwischen mir und meiner Wirklichkeit treffen zu wollen. Das aber ist nun wirklich eine andere Frage.