LUKULL

Skeptisch philosophieren

Das Chaos, Luzifer, Philosophie und die Problematik der Existenz

Zürich, 02.11.18
Dr. phil. Lukas Germann


Lucifer. He who bows not to him has bowed to me.

Cain. But I will bend to neither.

Lucifer. Ne'er the less, Thou art my worshipper; not worshipping Him makes thee mine the same.

            (aus: Lord Byron; Cain (1821))

 

Im alten Ägypten gibt es die Vorstellung des Urwesens Nun, das sich über dem Himmel wölbt und in jedem Moment durch denselben herabzustürzen droht, wobei es die Erde überfluten und alle Ordnung in Chaos begraben wird. Der Kosmos ist in diesem Bild kein sicherer Ort, seine Ordnung labil und vorläufig. Die Sicherheit, in der wir uns normalerweise wiegen, dass die Wirklichkeit, wenn wir morgen aufstehen werden, noch im Prinzip dieselbe sein wird, dass wir uns auf die Konstanz der Naturgesetze verlassen können, unsere Sprache verständlich und bedeutsam geblieben ist, die Hoffnung, dass auch unser persönliches Leben in einigermassen gesicherten Bahnen verlaufen wird, und wir genug "Lebenskenntnis" besitzen, um auch dafür zu sorgen, sind grundsätzlich in Frage gestellt.

 

In einer ersten Reaktion wird uns die radikale Angst, die hier nach Ausdruck sucht, vielleicht naiv und fremd erscheinen. Wir haben uns an ein pragmatisch naturalistisches Weltbild gewöhnt, dessen Erfolg unbestreitbar ist. Indem die Welt als äussere Wirklichkeit aufgefasst und objektiviert worden ist, die unabhängig von uns nach beschreib- und berechenbaren Gesetzmässigkeiten funktioniert, ist sie für den Menschen als Lebensraum zwar nicht immer sicher und behaglich, aber doch recht verlässlich und zumindest kleinräumig beherrschbar und grossräumig erklärbar geworden.

Die naturwissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit ist eine Geschichte kontinuierlichen Fortschritts. Die Menschheit hat die einmal natürlich begriffene Welt immer besser zu berechnen gelernt und das Wissen über sie beständig vermehrt. Die ersten Gehversuche naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle wurden durch neue ersetzt, die Methoden der Forschung und die Kriterien für "wahr" und "falsch" haben sich entwickelt und zur laufenden Erweiterung und besseren technischen Handhabung immer mehr menschlicher Lebensbereiche geführt.

Für die Philosophie kann nicht dasselbe behauptet werden. In ihren Reflexionen kehrt sie oft bis zu ihren Ursprüngen zurück, nicht aus blossem historischen Interesse, sondern weil sie immer noch Unerledigtes und Drängendes in den Fragen und Modellen ihrer Ahnen auszumachen scheint. So verstrickt und verästelt sie sich immer weiter und kann kein aus ihr resultierendes Wissen im Sinne des naturwissenschaftlichen vorweisen.

Philosophie funktioniert als Reflexion des Wirklichen in Bezug auf die menschliche Existenz. In Anlehnung an Karl Jaspers lässt sich Philosophie durch eine solche Bestimmung von den (Natur-)Wissenschaften unterscheiden, denen es um eine Erkenntnis der objektiven, also von der menschlichen Existenz (wenn auch nicht von menschlichem Einfluss oder der menschlichen Beobachtung) unabhängig vorgestellten Wirklichkeit geht. Diese äussere, objektive und einer empirischen Forschung offene Wirklichkeit lässt sich immer besser beschreiben und nach in ihr beobachteten Gesetzmässigkeiten erklären. Dies lässt sich nicht in gleicher Weise für die existentiell erfahrene Wirklichkeit, in der es um subjektive Momente wie Bedürfnis, Meinung, Befindlichkeit und Gestimmtheit des Welterlebens geht, durchführen.

Wenn es einen deutlichen Fortschritt im philosophischen Denken gibt, dann liegt dieser gerade im gewachsenen Bewusstsein für das Perspektivische jedes Wirklichkeits- oder Weltbezugs, sei es durch die Betonung der Abhängigkeit der empirischen Wirklichkeit von unserer Erkenntnisart derselben (Immanuel Kant), sei es durch die Rückführung von Welterklärungsmodellen auf ökonomische Interessenslagen (Karl Marx) oder von wirkungsstarken Begriffen und Diskursformen auf machtpolitische Auseinandersetzungen (Michel Foucault), sei es durch die kritische Herleitung von Wert- aus Geschmacksurteilen (Friedrich Nietzsche), um nur einige solcher Perspektivierungen aus der Geschichte der Philosophie zu nennen. Die kritische oder skeptische Relativierung von religiösen, naturwissenschaftlichen, politischen, historischen, moralischen, sprachlogischen, psychologischen und nicht zuletzt philosophischen "Wahrheiten" ist so zu einer Hauptbeschäftigung von Philosophie geworden. Dies hat zur Folge, dass sich das Resultat philosophischen Denkens eben nicht als quantitativer Zuwachs an Wissen, sondern als Zunahme einer Wissensskepsis ausnimmt, also eigentlich einer laufenden Bestätigung des berühmten Satzes der halbmythologischen Gründerfigur Sokrates: Ich weiss, dass ich nichts weiss.

 

Es ist allerdings kaum ihre skeptische Grundhaltung, die den Fortschritt der Philosophie problematisch erscheinen lässt, sondern umgekehrt ein existentielles Erleben der Wirklichkeit als problematische, welche zur Philosophie und die Philosophie zur Skepsis treibt. Woher stammt überhaupt das Bedürfnis nach Philosophie, also das Verlangen, über die Welt als etwas, das uns angeht, nachzudenken, sie besprechbar zu machen und zu verstehen?

Die eingangs erwähnte altägyptische Vorstellung vom Urwesen Nun, das ständig durch den Himmel zu brechen und die Schöpfung, den Kosmos zu verschlingen droht, bringt vielleicht doch etwas zum Ausdruck, das uns weniger fremd ist, als es zunächst den Anschein haben mag: das Dasein als etwas Labiles und Bedrohtes, die verlässliche Ordnung als etwas mühsam dem Chaos des Realen Abgerungenes, in unseren Träumen und Ängsten weit oberflächlicher und ungewisser, als wir uns bewusst eingestehen, das Leben als etwas Vergängliches und der Tod als das einzig Gewisse, über dessen allvernichtende Drohung wir uns mit allerlei Geschichten und Ritualen zu trösten versuchen. Anders gesagt: Die Wirklichkeit, wie sie für uns ist, lässt sich nur behelfsweise, für den Alltagsgebrauch sozusagen, objektivieren. Wir erleben sie nicht nur angefüllt mit Problemen und Fragen, sondern sie ist uns selbst ein Problem und ein Rätsel. Es gehört zur Verfassung des Lebens, des In-der-Welt-Seins, also der Wirklichkeit in unlösbarem Zusammenhang mit unserem Sein in ihr gedacht, problematisch zu sein. Der Bereich geordneter Sicherheit, sprachlicher Verständigung und vernünftiger Erklärbarkeit gibt sich im existentiellen Erleben mal mehr, mal weniger bewusst als stets bedrohter Bereich. Über dem Kosmos lauert Nun, das Chaos.

Gerade eine solche problematische Welt lässt das Bedürfnis nach ihrer Reflexion in einem philosophischen Sinn entstehen. Sie wird als labil empfunden, spannungsgeladen und voller bedrohlicher wie verführerischer Möglichkeiten, was von der Philosophie in ihre befragende und bezweifelnde Tätigkeit übersetzt wird. Ein zumindest implizites Bewusstsein davon liegt in jedem philosophischen Denken, auch wo es diesem gerade um die Überwindung des Zweifels und der Unsicherheit zu tun zu sein scheint. Erst der zweifelhaft gewordene Gott bedarf eines Beweises, erst der abhandengekommene Sinn wird gesucht, nur die problematische Welt will gerechtfertigt sein.

 

Natürlich war die Philosophie in ihrem Gang nie frei von den Idealen der Harmonie, des unbestreitbaren Sinns, der widerspruchsfreien Einheit, der gefundenen Wahrheit, des erreichten Ziels, vom Glauben also, dass sich die Welt überhaupt in eine Ordnung bringen, die Problematik der Existenz sich aufheben liesse. Immer wieder haben philosophische Denker_innen grossartige Systeme geschaffen, die den Anspruch einer gewissen Vollständigkeit tragen, die Richtung ihrer Reflexionen auf ein Ende hin angelegt oder aber umgekehrt in falscher Bescheidenheit sich ganz auf möglichst kleinräumige Probleme und harmlose Denkexperimente gestürzt, in der Meinung, diese liessen sich dann nach dem Vorbild der Naturwissenschaften "lösen". Dabei gibt sich die Philosophie als sprachlicher Ausdruck der problematischen Existenz auf.

 

Das Ideal des In-sich-Geschlossenen, Vollkommenen, Ungeteilten verbindet die monotheistischen Vorstellungen der heute noch wirkungsmächtigen Religionen des Westens und mittleren Ostens mit Platon, der das Gute, Wahre und Schöne als ein untrennbares Absolutes denkt.

Der Idee eines allmächtigen und allgütigen Gottes korrespondiert im jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos, der im Wesentlichen auch vom Islam übernommen worden ist, die Vorstellung einer perfekten Schöpfung. Die Welt wurde zunächst in völliger Harmonie geschaffen. Alles hat seinen festen und notwendigen Platz in einem makellosen Ganzen. Die beiden ersten Menschen werden in einen Garten gesetzt, in dem es weder Streit noch Mühsal oder Tod gibt. Das Sein der Menschen wird also als ein zunächst gänzlich unproblematisches vorgestellt. Im monotheistischen wie im platonischen Weltbild liegt also die Vorstellung vom Ideal der Einheit, von etwas Konflikt- und Widerspruchslosem, also von allem Problematischen als etwas, das es zu lösen und aufzuheben gilt. Es ist dies ein Ideal, das gerade dem widerspricht, was unser Dasein, unser Leben ausmacht, etwas, was sich letztlich nur zum Preis desselben haben lässt, das aber trotzdem als eigentliches Ziel alles Strebens und Sich-Mühens in einem alle Empirie oder gar alle Sag- oder Bildhaftigkeit transzendierenden Jenseits gesetzt wird.

 

Die zum Leben gehörige Problematik des In-der-Welt-Seins bringt der christliche Mythos in die Erzählung des Sturzes aus dem Paradies ­– "Paradise Lost", wie John Milton seine epische Bearbeitung dieses Stoffes genannt hat. Der gefallene Engel Luzifer, der ­– zumindest in der Version der apokryphen christlichen Schriften, die wiederum zur Vorlage von Miltons Epos gedient haben – mit einer verwegenen Schar von Aufrührern den Aufstand gegen den allmächtigen Schöpfergott gewagt hat und unterlegen ist, beredet in der Gestalt der Schlange das himmlische erste Menschenpaar von der verbotenen Frucht der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Dadurch erkennen die Menschen ihre Nacktheit, verbergen sich, werden vom Schöpfergott aber aufgespürt, aus dem Garten Eden geworfen und mit dem von nun an über das Leben herrschenden Tod bestraft.

Das Verblüffende an diesem Mythos ist einerseits, dass es der erste bewusste Erkenntnisgewinn ist, der Adam und Eva der Verdammung preiszugeben scheint, und andererseits, dass in der Bibel die Wertschätzung des verdammenden Schöpfergottes ob seiner menschenfeindlichen Tat keinen Schaden nimmt. Freilich drängt sich die Frage auf, ob es nicht eher die Angst vor der Allmacht und weit weniger ein Vertrauen in die behauptete Allgütigkeit dieses Gottwesens ist, die fortan seine Verehrung verlangt – etwas, was es vielleicht für alle zum Ideal erklärten Totalitäten zu fragen gilt: Könnte es sein, dass die Idealisierung des Guten, Wahren und Schönen zu absoluten Werten in existentieller Hinsicht mehr mit Angst vor ihrer Verwirklichung denn mit Hoffnung auf dieselbe zu tun hat? Dass das stets widersprüchliche, unreine, spannungsgeladene Dasein also mehr die bedrohliche lebensfeindliche Macht im Absoluten und Ganzheitlichen anerkennt, denn auf deren Verwirklichung im eigenen Interesse hofft?

 

Mit der Vertreibung aus dem Paradies jedenfalls ist gemäss dem christlich-jüdischen Mythos zugleich der Konflikt gegeben, der als Figur das Leben der Menschen jenseits von Eden bestimmen soll: Unter Schmerzen sollen die Menschfrauen ihre Kinder gebären, nur im Angesicht seines Schweisses soll der Mensch zu seiner Nahrung kommen, in Feindschaft sollen die Nachkommen der Schlange und die der Menschen einander begegnen... Mit dem Rauswurf aus dem Paradies tritt der Mensch so in eine Wirklichkeit ein, die gefährlich, spannungsgeladen, widersprüchlich, wesentlich problematisch, kurz diejenige unserer lebendigen Existenz ist. Der Mensch findet sich aus dem Paradies in die Welt geworfen wieder.

Die Figur des Geworfenseins, die Martin Heidegger dann in seinem Denken zu einem Kennzeichen des Daseins macht, bezeichnet einen Zustand, in dem der Geworfene in einer Situation sich findet, die er nicht selbst gewählt hat und welche die Grenzen seiner Möglichkeiten, aber auch deren Handlungsraum bestimmt. Wenn man diesen Heidegger'schen Begriff auf den Rauswurf aus dem Paradies beziehen will, so lässt sich freilich fragen, ob die in der christlichen Vorstellung als Erbsünde die Menschheitsgeschichte bestimmende Tat des Genusses der verbotenen Frucht der Erkenntnis weniger als Störung einer perfekten Schöpfung denn als ein Gewahrwerden von der in derselben von Beginn weg angelegten Problematik gelesen werden kann. Mit der einmal erlangten Fähigkeit zur Erkenntnis stellen Adam und Eva ihren Zustand, ohne dass er sich zunächst verändert hätte, in Frage, und empfinden ihre Nacktheit als Problem. Mit dem Befragen der Welt wird das Grundvertrauen in dieselbe erschüttert. Schutzlos und den Launen ihres Schöpfers ausgeliefert finden sich die beiden ersten Menschen schon bevor der Zorn der Gottheit sie aus dem Paradies verbannt. Durch eigene Kraft haben sie mit Hilfe der Schlange ihre Existenz und damit die Welt überhaupt als gefährdet und konfliktgeladen sehen gelernt. So werden sie von reinen Geschöpfen eines fremden Willens zu eigenständig Handelnden. Die Kenntnis von Gut und Böse scheint also gerade nicht die Einsicht in die Objektivität dieser Kategorien, sondern im Gegenteil deren sie als absolute Gegebenheiten in Frage stellende Perspektivierung zu beinhalten.

 

In einer solchen Umdeutung des Schöpfungsmythos wird also das Dasein des Menschen mit einem Bewusstsein für dessen Problematik verbunden. Zum In-der-Welt-Sein, um diesen Heidegger'schen Begriff hier gegen Heidegger zu wenden, gelangt der Mensch nicht durch ein göttliches Wunder, sondern durch die Erfahrung der Welt als Problem. Vorher ist ihm weder die Welt noch er sich selbst gegeben. Die göttliche Welt, das Paradies, verbietet den Widerspruch, bleibt spannungs- und gedankenlos und damit lebensfeindlich. Luzifer – der Rebell, Zweifler, Verneiner, Widersprecher, Lichtbringer – ist so gesehen derjenige, der das Leben bringt und zum Menschen in seinem Dasein steht.

In seinem Drama Cain lässt Lord Byron den Titelhelden – also den biblischen Brudermörder Kain – als Rebellen im Geiste auftreten. Als einziger der vertriebenen Familie will er sich nicht einfach abfinden mit dem göttlichen Beschluss. Er beginnt diesen ebenso in Frage zu stellen, wie den zwischen apathischer Pflichterfüllung und fanatischer Verehrung Gottes schwankenden Umgang seiner Eltern und Geschwister mit der Situation und ihrem Verursacher. Nicht der ferne Schöpfergott wird ihm in seiner Not zum Ansprechpartner, sondern der gefallene Engel Luzifer, die Figur also, welche die Allmacht des Schöpfers herauszufordern, zu widersprechen, zu zweifeln, in Abgründe zu blicken bereit war. Er ist es, der Kain mit auf eine Reise zu den Sternen und in die Unterwelt nimmt, der ihm von vergangenen und zukünftigen Welten berichtet und ihm so einen Sinn für Relationen und Perspektiven gibt. Das Versprechen der Einheit und Einzigkeit einer perfekten Schöpfung entpuppt sich als Lüge und die Wertung des Seienden als weit weniger gegeben, als es das Gebot des Schöpfers nahelegte. Lord Byron imaginiert so den ersten philosophischen Dialog als die Entscheidung, sich gegen den Schöpfergott und seine nur dessen Sicht zulassende und damit perspektivenlose Ordnung zu stellen, was zugleich einer Bejahung des Willens zur Erkenntnis im Sinne des beständigen Widersprechens und Zweifelns gleichkommt. Das meint Luzifer, wenn er verkündet: "Thou art my worshipper; not worshipping Him makes thee mine the same". Denn wenn Zweifel und Widerspruch nicht nur Methode, sondern ebenso Medium und Ergebnis der Erkenntnis sind, finden sich in dieser das Widersprüchliche gegen das Eine, das Unreine gegen das Schöne, das Bezweifelbare gegen das Wahre, das Relative gegen das Gute, das Sündige gegen das Tugendhafte, das Problematische gegen das Absolute in Stellung gebracht und bejaht.

Das Problem des Daseins ist kein lösbares Problem; es verlangt nach Ausdruck, bedarf des Austausches und Diskurses, lässt sich aber an kein Ende bringen oder vielmehr: Die Lösung von dessen Problematik wäre nicht nur das Ende der Philosophie, sondern die Auflösung des Lebens selbst. Das Versprechen des Paradieses und die Drohung des Nichts fallen in eins. Den Allgütigen zu verehren heisst, als Mensch nie bestehen zu können und keinen Menschen bestehen zu lassen, die absolute Wahrheit zu suchen heisst, die Lust des Widerspruchs zu verneinen, die alleinige Schönheit anzustreben heisst, die Spannungslosigkeit, das Nichts zum Ideal zu erheben.

In ihrer Reflexion sollte sich Philosophie daher nicht auf dieses Ende hin anlegen (was nicht heisst: Sie soll dessen Möglichkeit nicht bedenken), sondern der Problematik, dem Widerspruch, dem Zweifel affirmativ begegnen. Wenn der Byron'sche Luzifer für diese Art des denkenden Weltbezugs steht, dann gilt es tatsächlich ihm zu folgen.

 

Kehren wir nochmals zurück zur altägyptischen Vorstellung des über dem Himmel drohend lauernden Urwesens Nun. In ihr kommt nämlich noch etwas zum Ausdruck, was in der manichäisch aufgebauten monotheistischen Vorstellung nur ungenügend Repräsentation findet: das Chaos als das nicht nur der in die Ordnung eingeführte Widerspruch, sondern als dessen gänzliche Aufhebung in völliger Bezugslosigkeit, in der Auflösung alles Festen und Verlässlichen, als der eigentliche Abgrund, in dem Gott und Teufel gleichermassen versinken können. Das Reale wird dann zum Raum der völlig offenen und unberechenbaren Möglichkeit. Existenziell erfahren wir es im Wahnsinn, in letzter, in keine sprachliche Ordnung mehr zu bringender, unverständlicher Angst oder Hoffnung, in dem also, was uns auf Seite der Ordnung nur als leerer Name zugänglich ist. Wir können es rufen, aber wir wissen oder ahnen nicht, was da kommt. Und doch wird uns der ganze Kosmos nur als Problem bewusst in Abgrenzung oder im Widerspruch zu dieser Möglichkeit des gänzlichen Falls aus der "Welt".

Das ständige Ringen der Philosophie um Sprache ist auch vor dieser existentiellen Grundproblematik zu sehen. Sie trotzt sich Ordnung konstitierenden Regeln ab, die zugleich ihre Bedingung sind. Indem sie die Wirklichkeit in Bezug auf die Existenz reflektiert, befindet sie sich in der Ordnung dem möglichen Chaos ausgesetzt. Sie muss in der Ordnung (der Sprache, der Logik, der Vernunft) verbleibend dessen unsagbare Anwesenheit mitdenken, in ihrem Ausdruck dem Unausdrückbaren eine Anwesenheit geben. Schon deshalb wird sie sich in ihrer Form wie ihrem Gehalt nie genügen können. Auch dieser Text, der eine dem Widerspruch affirmativ begegnende Philosophie fordert, muss – um nachvollziehbar zu bleiben – in sich Widerspruchsfreiheit anstreben.

Philosophie ist in ihrer Sprache umgeben vom Schweigen – nehme dieses nun die Gestalt sich absolut setzender stiller Ordnung oder stimmlos-kakophonischen Chaos' an. Schon deswegen bleibt ihr zwischen diesen beiden Polen nur die Setzung ihrer selbst als in einem affirmativen Sinne widersprüchliche im dauernden Bemühen, die Sprache der Existenz nicht nur zu sein, sondern sich als solche weiter gleichzeitig zu präzisieren und zu öffnen.

Solange sie als die Reflexion der problematischen Existenzerfahrung aber überhaupt noch zur Sprache findet, wird sie dem luziferischen Bild mehr entsprechen als dem göttlichen Ideal.