LUKULL

Skeptisch philosophieren

Ethik – Fluch oder Segen?

Lange Nacht der Philosophie, Zürich, 15.11.18
Dr. phil. Lukas Germann


Dieser Titel ist zugegebenermassen etwas suggestiv und polemisch. Das Verfluchen oder Segnen sind Praktiken des Hexers, der Priesterin oder des Schamanen, nicht unbedingt des Philosophen oder der Wissenschaftlerin. Damit einhergehend wird mit unserem Titel Ethik auch als etwas von aussen Dazukommendes vorgestellt, also etwas nicht eigenes, das jemand anderes über einen ergiesst.

Dabei scheint doch das moralische Empfinden etwas sehr persönliches und ganz aus uns selbst Kommendes zu sein. Freilich auch etwas, über das wir nicht bewusst bestimmen können. Eine emotionale Reaktion auf ein offensichtliches Unrecht, etwas das in uns über uns kommt.

In Dostojewskis "Die Brüder Karamasoff" wird ein solches moralisches Empfinden zum Mittelpunkt eines Gesprächs zwischen den beiden Brüdern Iwan und Aljoscha.
Was eigentlich von allen Personen aus Dostojewskis Romanen gesagt werden kann, gilt auch für diese beiden Brüder: Es gibt keine Distanz zwischen ihnen und ihren Überzeugungen oder existentiellen Problemen und Fragen, fieberhaft geben sie sich denselben hin, stürzen sich in sie, sodass sie als Monaden existentieller Auseinandersetzungen und Hingebung erscheinen. Die Begegnungen dieser Figuren ereignen sich deshalb als Begegnungen verschiedener und mehr oder weniger in sich geschlossener  existentieller Weltbetrachtungen oder Lebenseinstellungen. Sie treffen sich aber in der Bereitschaft, in ihrem jeweiligen Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu gehen.
Das unerschütterliche Vertrauen auf Gott und die Menschen, das den jüngeren Bruder Aljoscha bestimmt, trifft auf den pessimistischen Zweifel, mit dem der ältere Iwan der Welt und dem Leben begegnet. Iwan argumentiert nicht systematisch, sondern indem er eine ganze Reihe von Anekdoten erzählt, in denen allen sich das moralische Empfinden empört und eine mögliche Versöhnung desselben unmöglich erscheint. Die Harmonie der guten Weltordnung wird in ihren Grundfesten erschüttert.
Eine der eindrücklichsten dieser Anekdoten handelt von einem General und Gutsbesitzer noch zu Zeiten der Leibeigenschaft:

" (...) Also dieser General lebt auf seinem Gut mit etwa zweitausend leib-eigenen Seelen, lebt natürlich pompös, behandelt seine ärmeren Gutsnachbarn wie seine Schmarotzer und Hofnarren. Seine Meute besteht aus Hunderten von Hunden, und die Zahl der Hundewärter ist nicht viel geringer als hundert, alle sind sie uniformiert und beritten. Und siehe, eines Tages verletzt ein kleiner, kaum achtjähriger Junge beim Spielen den Fuß des Lieblingshundes seiner Exzellenz. ›Warum lahmt denn plötzlich mein Lieblingshund?‹, erkundigt sich der General. Es wird ihm berichtet, daß, nun, so und so, dieser Knabe den Hund mit einem Stein am Fuß getroffen habe. ›Ah, also der ist es‹, sagt der General mit einem entsprechenden Blick auf den Knaben. ›Ergreift ihn!‹ Man ergriff ihn, nahm ihn von der Mutter fort und steckte ihn in die Arrestkammer. Am nächs-ten Morgen ritt der General mit allem Drum und Dran zur Jagd, alle Gäste um ihn herum, Hundewärter und Piköre, Jägermeister, alle beritten und in Livree, und die Hunde gekoppelt. Das ganze Hofgesinde war versammelt, und vorn vor allen anderen steht die Mutter des schuldigen Knaben. Da wird der Knabe aus der Arrestkammer gebracht. Es ist ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, wie geschaffen zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden; der Kleine wird bis auf die Haut entkleidet, er zittert, ist ganz benommen vor Angst, wagt kaum zu atmen… ›Hetzt ihn!‹ kommandiert plötzlich der General und ›Lauf, lauf!‹ schreien dem Kleinen die Piköre zu, – der Knabe läuft... ›Packt ihn!‹ brüllt der General und hetzt auf den kleinen laufenden Knaben seine ganze wilde Hundeschar. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde zerrissen es in Stücke! ... Der General wurde, glaube ich, unter Aufsicht gestellt. Nun, was hätte man wohl anderes mit ihm tun sollen? Erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sag doch, Aljoschka!« »Ja, erschießen!« sagte Aljoscha leise, mit einem blassen, gleichsam verzerrten Lächeln, den Blick zum Blick des Bruders erhebend. »Bravo!« rief Iwan triumphierend (...), »wenn selbst du es sagst (…) du Asket! Da sieh doch einer, was für ein kleiner Teufel in deinem Herzchen sitzt, Aljoschka Karamasoff« »Ich habe eine Albernheit gesagt, aber …« »Das ist es ja, daß darauf ein ›aber‹ folgt!« fiel ihm Iwan ins Wort."

(Fjodor M. Dostojewski; Die Brüder Karamasoff (1880); aus dem Russischen übersetzt von E. K. Rahsin; München/Zürich 1985; S. 394/5)


Worum es Iwan hier geht, ist nicht eine Diskussion über die Moralität der Todesstrafe oder die Anklage des sozialen Missstandes der Leibeigenschaft. Und sein Triumph am Schluss dieser Passage gilt der Erschütterung, die in Aljoschas Antwort zum Ausdruck kommt, nicht ihrem Inhalt. Um was es ihm zu tun ist, ist die existentielle Empfindung der moralischen Empörung, die radikale Störung des Vertrauens in ein geordnetes Weltgefüge, das Unversöhnliche, das Nicht-wieder-gut-zu-Machende. Die Antwort Aljoschas ist kein Lösungsversuch des Problems, kein Versuch, Gerechtigkeit wieder herzustellen, sondern das schlichte und intuitive Bedürfnis nach Rache angesichts der erschütterten Weltordnung.

In der moralischen Empörung fallen Welt und Existenz zusammen, keine Objektivierung der Wirklichkeit ist mehr möglich. Das Dasein als In-der-Welt-Sein wird im Moment des völligen Verlusts von Vertrauen in die Ordnung dieser Welt bewusst. Die Welt wird in einem existentiellen Sinne problematisch. ch wage zu behaupten, dass es gerade eine solche Erfahrung der Welt als problematische ist, die zur philosophischen Reflexion derselben treibt. Ein zumindest implizites Bewusstsein davon liegt in jedem philosophischen Denken, auch wo es diesem gerade um die Überwindung des Zweifels und der Unsicherheit zu tun zu sein scheint. Erst der zweifelhaft gewordene Gott bedarf eines Beweises, erst der abhandengekommene Sinn wird gesucht, nur die problematische Welt will gerechtfertigt sein.


Die Suche nach allgemeinen Kriterien für unser Handeln, also die Beantwortung der Frage "Was soll ich tun?" (die Grundfrage der Ethik), ist ein aus der einmal problematisch gewordenen Existenz resultierendes Problem.  Ethik als Teildisziplin der Philosophie fällt also nicht zusammen mit der moralischen Empörung, um die es bei Dostojewski geht. Der Frage nach dem "Sollen" nachzugehen, ist nur eine von verschiedenen Konsequenzen aus der einmal fragwürdig gewordenen kosmischen Ordnung –  freilich eine, die sich wegen ihrer unmittelbaren praktischen Implikationen aufdrängen mag.

Zu den folgenreichsten Beiträgen der Ethik gehören sicher die beiden Werke, in denen sich Immanuel Kant der Frage "was soll ich tun?" angenommen hat: Die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und die "Kritik der praktischen Vernunft".
Kant versucht dabei ein oberstes Prinzip der Moralität ganz aus der Vernunft zu begründen, eines also, das von zufälligen empirischen Bestimmungsgründen unabhängig wäre. Das Resultat ist der berühmte Kategorische Imperativ, also ein Gesetz, das ausdrückt, was Gesetzmässigkeit überhaupt sei. Kant hat diesen kategorischen Imperativ auf verschiedene Weise formuliert. In der "Kritik der praktischen Vernunft" lautet die wohl meistzitierte Formulierung: "Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer all-gemeinen Gesetzgebung gelten könne." (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788); in: ders., Akademieausgabe V; S. 30)

 Kants Imperativ war folgenreich und ist für das Wertverständnis der sozialliberalen Gesellschaftsformationen und Gesellschaftsentwürfe bis heute fast unentbehrlich. Doch sind seine Formulierung und der damit verbundene Anspruch nicht unproblematisch.
So ist seine Bedeutung, zumindest wenn man den Satz isoliert, also losgelöst vom Argumentationszusammenhang bei Kant, betrachtet, recht undeutlich und es sind verschiedene Verständnisarten möglich. Man kann den Kategorischen Imperativ wirklich völlig befreit von allem konkreten Inhalt, als rein formale Bestimmung betrachten. Dann sagt er aber gar nichts über ein konkretes Sollen aus. Er bestimmt nur, wie die einem Handeln zugrundeliegenden Maximen formal bestimmt sein müssen, um sich zum allgemeinen Gesetz zu erheben. Es ist damit nichts darüber gesagt, was für einem Zweck dieses allgemeine Gesetz dienen soll, was für ein Zustand es herstellen wird, was für eine Art des Lebens und Zusammenlebens anzustreben sei.
Kant versucht dieses Problem zu lösen, indem er den Menschen zum Vernunft-wesen erklärt: die Vernunft also von einem Werkzeug zur Erreichung erst zu bestimmender Ziele zum wesentlichen Ziel selbst macht. Der Mensch soll also die Ordnung der Vernunft erfüllen und weil er eben wesentlich vernünftig ist, ist das Ziel dieses Sollens nicht etwas von aussen ihm Auferlegtes, sondern letztlich die Verwirklichung seiner selbst.
Der Widerspruch bleibt aber bestehen: Wenn ein Zustand gegeben ist, in dem die Ordnung der Vernunft nicht verwirklicht ist, und der Weg zu ihrer Verwirklichung den Modus eines Sollens hat, so scheinen auch andere Wege, andere Ziele als diejenigen der Vernunft zumindest möglich zu sein. Dadurch aber wird der Kategorische Imperativ, sobald wir ihn mit Inhalt füllen, letztlich zu einem nur noch hypothetischen Imperativ, also zu einem Imperativ, der nur unter Zugrundelegung einer Voraussetzung Gültigkeit hat: Wenn die vernünftige Ordnung oder die Verwirklichung der Vernunft das Ziel sein soll, dann...

In der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" findet sich eine in ihren Implikationen weit konkretere Formulierung des Kategorischen Imperativs: "Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest." (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; in: ders., Akademieausgabe IV; S. 429)
Es wird bei einer solchen Formulierung eine Gemeinschaft der vernunftbegabten Wesen angestrebt, in der das Handeln so ausgerichtet sein soll, dass der oder die  Handelnde sich selbst und die anderen Mitglieder dieser Gemeinschaft als Selbstzwecke setzt. Der Imperativ wird so weit konkreter, aber auch sogleich voraussetzungsreicher.
Lassen wir die Frage, ob eine solche Gemeinschaft vernunftbegabter Wesen notwendigerweise wünschenswert sei, also ob dem Sollen auch ein Wollen entsprechen muss, einmal weg und gestehen Kant dieses Ziel zu. Das Problem, wer zu dieser Gemeinschaft gehören soll, bleibt doch ungelöst.
Als vernunftbegabt erlebe ich jemanden, mit dem oder der ich in einen vernünftigen Diskurs treten kann, von dem oder der ich also erwarten kann, dass die Möglichkeit einer gegenseitigen Anerkennung als Vernunftwesen und damit als Selbstzwecke besteht. Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat aber gezeigt, dass man Menschen ihre Menschlichkeit absprechen kann. Es bleibt dann ­– wie Giorgo Agamben ausführt – nur das nackte Leben, das der Tötbarkeit überantwortet werden kann. Diese Wesen fallen aus dem vernünfti-gen Diskurs, sie sind dann auch der Möglichkeit nach nicht mehr Teil einer Gemeinschaft vernunftbegabter Wesen. Sie sind schlicht keine Personen mehr und damit auch nicht mehr Gegenstand des Kategorischen Imperativs in der Formulierung aus der "Metaphysik der Sitten": "Handle so, dass du die Mensch-heit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest." Die Menschheit als Gemeinschaft der Vernunftwesen setzt die geforderte Anerkennung schon als etwas in der gesellschaftlichen Praxis gegebenes voraus.

Dies alles spricht nicht unbedingt gegen Kant, es zeigt aber, dass der Kategorische Imperativ keinen Massstab bieten kann, der, von allen anerkannt, moralische Probleme "objektiv" lösbar macht. Einerseits ist es nicht ganz klar, ob er seiner Form nach nicht doch ein verstecktes hypothetisches Urteil ist, andererseits zeigt sich sein Gültigkeitsbereich als durchaus problematisch.

Ein weiteres Problem, das Kant explizit angeht, ist das Problem der Freiheit im Verhältnis zur Pflicht. Die Frage nach dem Sollen setzt voraus, dass es so etwas wie einen freien Willen gibt, die Entscheidung, so oder anders zu handeln, im Ermessen des/der Entscheidenden liegt und nicht durch äusser-liche Faktoren und Gesetze determiniert ist. Umgekehrt wird im Sollen eine Vorgabe präsentiert, nach der hin sich das Handeln zu richten hat. Insofern betrifft der Umgang mit der Frage "was soll ich tun?" eine innere und ganz persönliche Fähigkeit oder Eigenschaft, die man Freiheit nennt, und ein davon unabhängiges, also dieser Freiheit äusserliches Gesetz, das man erkennen, anerkennen, befolgen soll.
Gemäss Kant aber ist der Mensch eben – wie gesagt –  ein Vernunftwesen. Dadurch findet er in sich das Gesetz nach dem er sich ausrichten soll. Idealer-weise fallen Wille und Gesetz in eins. Die Ausübung der Freiheit besteht also in der Erfüllung der Pflicht.

Ich will jetzt nicht ausführlich auf die Problematik einer solchen Pflichtethik eingehen. Es sei hier nur erwähnt, dass Gilles Deleuze einen sehr heftigen Angriff auf das, was er den "Gerichtshof der Vernunft" nennt, gefahren ist. Er spricht von einer "Unterwerfung, die umso scheinheiliger ist, als man uns den Titel von Gesetzgebern verleiht.“ (Gilles Deleuze, La philosophie critique de Kant (1963); in: ders., Unterhandlungen 1972-1990; Frankfurt a.M. 1993; S. 15)  Die Vehemenz von Deleuze' Kritik bringt wiederum ganz andere Probleme mit sich, um die es hier aber nicht gehen soll. In meinem Fokus steht mehr die für die Frage nach dem Sollen unentbehrliche Rede von Freiheit überhaupt.
In dem der Frage "was kann ich wissen?" gewidmeten Buch "Kritik der reinen Vernunft" hatte Kant gezeigt, dass alles, was überhaupt Gegenstand meiner Erfahrung werden kann, eine Ursache haben muss. Oder anders gesagt: Etwas über die Wirklichkeit zu wissen heisst, es unter anderem nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung erklären zu können. "Freiheit" macht da als Konzept schlichtweg keinen Sinn.

Das menschliche Handeln lässt sich aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Sollens, sondern auch als empirisches Phänomen betrachten. Dann werden für seine Begründung Motive ersichtlich, die weder mit der Vernunft noch mit der Ausübung von Freiheit zu tun haben. So hat Friedrich Nietzsche die Hand-lungsmotive ihrer moralischen Verklärung beraubt und sie auf Machtinstinkte zurückgeführt und Sigmund Freud hat mit dem Unbewussten und dem Lebens- und Todestrieb das mögliche Sprechen über Handlungsmotive in eine ganz andere Richtung erweitert.
Kant umgeht dieses Problem, indem er unterscheidet zwischen dem empiri-schen und einem transzendentalen Ich. Das, was wir erfahren, repräsentiert das Reich der Notwendigkeit. Das erfahrene Ich ist kausal determiniert. Das erfassende Bewusstsein hingegen ist selbst nicht Phänomen der Erfahrung. Es ist ein Ding an sich. Das transzendentale Ich gehört dem Reich der Freiheit an. Hier droht Kant aber meines Erachtens hinter seine eigene Kritik zurückzu-fallen. Sofern das erfahrende Ich nämlich überhaupt Betrachtungsgegenstand eines Diskurses werden kann, ist es Teil der empirischen Wirklichkeit. Als "Ding an sich", also als Ding unabhängig von seiner empirischen Erfahrbarkeit, kann es auch nicht Gegenstand eines das Sollen betreffenden Diskurses werden.

Was sich zwischen dem Diskurs der Notwendigkeit und dem Diskurs der Freiheit verändert hat, ist vielmehr die Hinsicht auf diese Wirklichkeit, der Zusammenhang, in dem diese thematisch wird, und das Ziel oder der "Sinn", unter denen diese Thematisierung steht. Der Rede von Freiheit liegt eben nicht die Praxis der Benennung und Erkenntnis zugrunde, sondern die Praxis des Zusammenlebens und des gesellschaftlichen Verkehrs miteinander. Mit "Freiheit" lässt sich nichts erklären, es lässt sich aber ihr gemäss sich ver-halten. Die Praxis gesellschaftlichen Umgangs lässt sich nicht objektivieren und auch nicht in ein ganz aus Vernunftprinzipien abgeleitetes verbindliches Sollen fassen, ohne sie selbst als Praxis ganz aufzuheben.

Die Kantische Pflichtethik, die auf die Motive der Handlungen fokussiert, erweist sich also in verschiedener Hinsicht als problematisch. Sind da vielleicht utilitaristische Ansätze erfolgsversprechender? Diese verlegen den Fokus weg vom Motiv hin zum Resultat einer Handlung. Das Glück, je nachdem auch die Lust oder die Zufriedenheit, werden zum Massstab erklärt. Jeremy Bentham etwa will die Moralität von Handlungen danach messen, ob sie in ihrer Konsequenz dem Ziel des grössten Glücks für die grösste Zahl von Menschen förderlich seien. Nach diesem Prinzip versucht er eine Art Systematik zu ent-wickeln, um ausrechnen zu können, was am meisten Glück (pleasure) verspricht.
Der Versuch, so etwas wie Glück oder Lust zu objektivieren, führt aber nur zu absurden Versuchen, unvergleichbare Dinge mit einander in vergleichende Beziehungen zu setzen. Glücks- oder Lusterfahrungen sind subjektiv und schon kaum kommunizierbar, geschweige denn objektivier-, systematiser- und quantifizierbar, um hier nur das vielleicht offensichtlichste Problem des Utilitarismus zu nennen.

Weder von ihren Motiven noch von ihren Folgen aus lassen sich also menschli-che Handlungsweisen auf ein allgemeines und verbindliches Sollen verpflichten oder in ein objektives System für ihre moralische Wertung bringen.
Wie also sind Diskurse beschaffen, in denen es sinnvollerweise um ein Sollen gehen kann? Und welche Rolle spielt dabei überhaupt der im engeren Sinne ethische Diskurs, also die philosophische Reflexion auf die Frage "was soll ich tun"?

Explizit wird das Sollen aktiviert bei der Festlegung von verbindlichen und mit entsprechenden Sanktionen belegten Regeln des Zusammenlebens. Das betrifft sicher die eigentliche Gesetzgebung, aber im kleineren Massstab auch solche Dinge wie die Regeln eines Schulhauses oder die Hausordnung. Gesetze werden erlassen, um den Raum der gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten fest-zulegen, zu ordnen und den möglichen Handlungsweisen Grenzen zu setzen. Gesetze sind aber keine moralischen Urteile. Kant selbst bestätigt dies, wenn er sagt, dass wir der juristischen Pflicht aus Furcht vor der Strafe nach-kommen, während wir der ethischen aus der Einsicht in ihre Richtigkeit folgen. Es ist durchaus möglich, aus einer moralischen Empfindung heraus ein Gesetz zu brechen. Und es ist auch denkbar, dass dieses moralische Empfinden von einem Grossteil der Bevölkerung geteilt wird. Solange das entsprechende Gesetz aber in Kraft ist, wird ein Staat oder eine andere Regeln erlassende Institution für seine Durchsetzung einstehen müssen, will sie nicht ihre Macht und damit die Ordnung, die diese verbürgt, in Frage gestellt sehen.
Man verstehe mich recht: Es geht mir nicht darum zu sagen, man soll solche Ordnungen nicht in Frage stellen und auch nicht darum, zu behaupten, Gesetze seien einfach zum blinden Befolgen da. Gerade auch wenn man sie aber umstossen oder umgehen will, darf man Gesetze nicht mit moralischen Urteilen verwechseln. Gesetze und Verordnungen geben uns vielmehr den Rahmen, in dem wir uns zu bewegen haben, und die an sie gebundenen Sanktionen geben uns Aufschluss darüber, was wir wagen, wenn wir diesen Rahmen zu sprengen gedenken. Das durch sie vorgegebene Sollen ist jedenfalls nicht das, um welches es in der Ethik geht.

Ebenfalls thematisch wird das Sollen in der Politik.
Was aber ist denn Politik? In ihr geht es um die Regelung des Gemeinwesens, sie ist der Diskurs der Aushandlung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen, Bedürfnissen und - ja! - Wertvorstellungen. Diese Dinge sind ihr aber eigentlich vorgelagert, d.h. die Interessen, Bedürfnisse und Wertvor-stellungen sind nicht ihr Resultat, sondern ihre Ausgangslage. Politik ist so gesehen die Kunst, die eigenen Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Wir erleben heute freilich eine Moralisierung des politischen Diskurses, politi-sche Vorstösse, die rein apellativen Charakter haben, die sich in moralischer Entrüstung verlieren und im allgemeinen Wehklagen enden. Wir sehen dieses Phänomen von Rechts wie von Links. Die Rechte versteht es aber heute – zumindest global gesehen – weit besser, das moralische Gezeter nur als Geräuschkulisse für erfolgsversprechende Machtpolitik zu nutzen. Die Linke tendiert dagegen dazu sich vor lauter moralischem Puritanismus zu paralysie-ren. Als zumindest in den meisten Bereichen Linker schmerzt es mich nicht wenig, das zu konstatieren. Meine Empfehlung an die Linke wäre es, wieder vermehrt Machiavelli, Marx und Lenin zu lesen, um zu lernen, dass es in der Politik nicht um Moral, sondern letztendlich tatsächlich um Macht geht. Sofern es die Politik aber mit Werturteilen zu tun hat, handelt es sich dabei um hypothetische, nicht um kategorische Imperative, um Urteile also, die als ihre Voraussetzung und Ziel bestimmte Interessen oder die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse haben.

Nun gibt es natürlich auch so etwas, wie ein gesellschaftliches oder kulturelles Wertesystem, auf dessen Grundlage sich eben zum Beispiel der politische Diskurs abspielt. Dieses entstammt keinem einheitlichen Diskurs, sondern ist vielschichtig, uneinheitlich und aus unterschiedlichsten Quellen genährt. Zumindest dort, wo man ein Ende der Vorherrschaft religiöser oder anderweitig legitimierter Dogmatik über die Moral voraussetzen kann.
Einige Werte, die wir vertreten, teilen wir vielleicht nur mit einem ausgesuchten Kreis Gleichgesinnter, andere erscheinen uns so tiefgreifend und welt-umspannend, dass wir geneigt sind, sie wirklich für objektiv und allverbindlich anzusehen. Jedenfalls halten wir unsere Werte immer für die besten, sonst wären sie ja nicht unsere Werte und neigen dazu, die Geschichte, die zu ihnen geführt hat, als Fortschrittsgeschichte zu lesen. Sie sind in unser Wesen über-gegangen und definieren, was wir sein möchten und wogegen wir uns stemmen. Trotzdem gründen sie einzig in unserer Art, die Welt und unsere Existenz zu betrachten, sind historisch gewachsen, veränderbar und entbehren eines absoluten Kriteriums, an dem sie sich "objektiv" messen liessen oder können zumindest kein solches aufzeigen.  Davon spricht Nietzsche, wenn er den Tod Gottes verkündet und wenn er meint, dass die Tragweite dieses Ereig-nisses einiger Jahrhunderte bedürfe, um ganz erfasst zu werden.


Was für eine Rolle spielt nun Ethik als philosophische Disziplin? Weder Politik noch das Erstellen von und der Umgang mit Regeln und Gesetzen bedarf derselben. Im Gegenteil scheint mir die Vermischung von diesen Diskursen mit Ethik eher denselben zum Schaden zu gereichen. Trotzdem kann eine philo-sophische Reflexion der Frage "was soll ich tun?" durchaus sinnvoll, ja wichtig und fruchtbar sein. Dies gilt für eine Welt nach dem Tode Gottes sogar umso mehr, gerade weil in ihr eben "gut" und "böse" ihre Wertigkeit und ihre Bedeutung verändert haben. Sie kann uns lehren, Widersprüche auszuhalten, Entscheidungen als notwendig, aber immer in ihrer Bewertung vorläufig zu begreifen; sie kann die bestehenden Werte in Unruhe bringen, gegeneinander stellen und in Zweifel ziehen, uns zu anderen Perspektiven verleiten, relativie-ren und andere Interessen und Bedürfnisse zu verstehen helfen. Was sie aber nicht kann, ist den toten Gott ersetzen, uns Kriterien für ein "objektives" gut und böse, richtig und falsch aus dem Hut zaubern. Den Ethikerinnen und Ethikern sollte nicht die Rolle von säkularen Priestern zugesprochen werden, die uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben– und dieses "Sollte" ist kein oder zumindest nicht in erster Linie moralisch begründetes, sondern eines, das den Ethiker_innen die Fähigkeit für diesen Posten schlicht abspricht.

Im Bedürfnis nach Objektivität im Werturteilen schwingt das Erbe des Dogmas und der religiös-idealistischen Vorstellung einer harmonischen Weltordnung nach. Wo die Ethik den Anspruch erhebt, Richtlinien für eine solche Objektivität zu haben oder entwickeln zu können, kommt sie – wie der Titel unseres Beitrags suggeriert ­ – von aussen über einen. Sie wird vielleicht als Segen empfunden, weil sie Klarheit zu schaffen scheint, ist aber eigentlich ein Fluch, weil sie gerade den Sinn für die Relationalität von Werturteilen trübt. Somit steht sie einer Annahme der problematischen Welt als problematischer, die wir erfahren und in der wir leben, im Wege.

Nietzsche führt Werturteilen auf Geschmacksurteile zurück. Er zeigt auch, wie sich der Geschmack und mit ihm die moralischen Werte historisch verändert haben. Das provoziert, denn wir sind uns gewohnt, einerseits moralische Werte heilig zu sprechen und andererseits Geschmack als etwas eben rein Subjek-tives abzutun. Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten.
Doch wie wir uns jenseits der Notwendigkeit im Leben verhalten, wie wir uns zur Welt stellen wollen, hat eben wesentlich mit Geschmack zu tun. Was sollen unsere Ziele sein, wie wollen wir leben, was soll möglich sein, was nicht, was empfinden wir als Glück, was als zu vermeidendes Unglück, was für Opfer sind wir bereit einzugehen, was für Opfer sind wir bereit anderen zuzumuten...
Keine objektiven und verallgemeinerbaren Antworten darauf können erwartet werden. Wir sind allein mit uns und es gibt keine absolute moralische Instanz, vor der wir uns zu rechtfertigen hätten oder die uns verbindlich sagen würde, was wir tun müssen. Weder in uns noch ausser uns. Mit unseren Handlungen stehen wir nur vor uns und vor einander, stets in Widersprüchen, stets ohne Gewähr, in einer problematischen Welt, in der es kein absolutes Anrecht auf Gerechtigkeit oder Versöhnung gibt.

Es bleibt also die existentielle Erfahrung des erschütterten Weltvertrauens, das Unrechtsempfinden als nicht weiter begründbare existentielle Beunruhigung, wie sie bei Dostojewski zum Ausdruck kommt. Könnte in ihr doch etwas liegen, was wir Menschen teilen und als Grundlage einer Art verbindlichen minima moralia dienen würde? In den "Brüdern Karamasoff" erlebt Iwan diese existentielle Empfindung als eine Verlusterfahrung: der Verlust des Glaubens, des Vertrauens, der Weltordnung. Dass Welt und Existenz problematisch werden, mag die Frage nach dem Sollen unter vielen anderen Fragen mitprovo-zieren, bietet aber keinerlei Fundament für deren Beantwortung. Iwan reagiert darauf letztlich mit einer sich am Ende in den Wahn steigernden Verzweiflung. Vielen, der auf den Tod Gottes reflektierenden Existentialist_innen bleibt diese Verzweiflung zumindest als Grundierung ihrer Welthaltung eigen, von Dostojewskis Iwan über Arthur Schopenhauer bis hin zu den französischen Existentialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Sie nährt sich an einem nicht überwundenen Ideal: dass die Welt nämlich doch eigentlich harmonisch, gerecht, gottgeschaffen sein müsste.

Bei Nietzsche ist ein anderer Umgang zumindest als Möglichkeit angelegt. Durch die Übernahme einer ästhetischen ­– also einer zugleich sich einlassen-den und Distanz wahrenden – Weltsicht lässt sich die Welt eben gerade als widersprüchliche und ungerechte gutheissen. Sie wird als spannend und in kreativem Sinne fruchtbar erlebt. So vermag man zum Dasein in seiner Wider-sprüchlich vielleicht doch Ja zu sagen und gerade diese Widersprüchlichkeit zum Ausgangs- und Zielpunkt des Handelns und - ja! - der Verbesserung der Welt nach eigenem Geschmack zu machen.


Bibliographie

Giorgio Agamben, Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben (1993); Frankfurt a. M. 2002

Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation (1789); Amherst, New York 1988

Gilles Deleuze, La philosophie critique de Kant (1963); in: ders., Unterhandlungen 1972-1990; Frankfurt a.M. 1993

Fjodor M. Dostojewski; Die Brüder Karamasoff (1880); aus dem Russischen übersetzt von E. K. Rahsin; München/Zürich 1985

Immanuel Kant, Akademieausgabe (23 Bände); Berlin 1968

Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden; München/Berlin/New York 1988