LUKULL

Skeptisch philosophieren

TOD

Lange Nacht der Philosophie, Zürich, 21.11.19
Dr. phil. Lukas Germann


Wenn wir den Tod zu denken versuchen, sehen wir uns vor merkwürdige Widersprüche gestellt.
Einerseits gehört der Tod zu den Gewissheiten unseres Lebens. Wir wissen, dass wir und alle, die wir kennen, einmal sterben werden. Insofern lässt sich sagen, dass der Tod zum Leben gehört.
Andererseits ist der Tod gerade das, was dieses Leben beendet. Insofern gehört der Tod eben gerade nicht zum Leben, kommt in ihm nicht vor. Wir können zumindest mit dem eigenen Tod keinen Umgang finden, denn Umgang finden wir mit dem, was wir in der Welt antreffen, das uns darin begegnet. Dem Tod aber begegnen wir nicht, solange wir leben.

Wenn die Welt, in der wir leben, einen Grund, auf dem wir stehen und uns bewegen können, bildet, so ist der Tod ein Abgrund. Wir ahnen, spüren, wissen, dass er auf uns zukommt, doch haben wir keine Möglichkeit, ihm auf den Grund zu gehen, ohne selbst den Grund unter den Füssen zu verlieren.

Wir sehen und erfahren die Wirkungsweise des Todes auf unsere Welt und Existenz. Menschen sterben, sie sind dann nicht mehr da und mit diesem Verlust lässt sich umgehen. Den Tod selbst aber kennen wir nicht, solange wir leben und weil das, was wir unter Erkennen verstehen, an das Leben gebunden ist, können wir uns nicht vorstellen, wie eine Erkenntnis, die nicht mehr ins Leben fällt, aussehen, sich anfühlen, erfahren werden könnte.
Der Tod ist auch eine Demütigung menschlicher Neugier und menschlichen Forschens, da er so etwas wie die absolute Grenze des Wissbaren markiert, zumindest dann, wenn wir nicht vom Tod als biologischem Phänomen, sondern als Vernichtung unserer Existenz, als Ende unseres In-der-Welt-Seins sprechen.

Bei all seiner Gewissheit jedenfalls ist der Tod, in dem, was er für uns bedeutet, doch so wenig fassbar, dass er in seiner Bedeutung, wenn auch nicht in seiner Bedeutsamkeit für uns völlig ungewiss erscheint.
Offensichtlich aber nimmt der Tod oder etwas vom Tod her Kommendes eine grosse Präsenz in unserem Leben ein. Uns Menschen ist am Tod gelegen.
Was können wir also meinen, wenn wir doch miteinander über den Tod sprechen, über ihn nachdenken, auf ihn reflektieren wollen?
Wie drückt sich der Widerspruch, dass uns der Tod eben gerade angeht als etwas, das uns nie im Leben begegnen kann, in diesen Reflexionen aus?

Die Bilder, die wir uns vom Tod und unserem Verhältnis zu ihm machen, haben ihren Ursprung oft in mythischen Welterzählungen. In den Erzählungen, die sich Menschen von der Welt gegeben haben, drücken sich Bedürfnisse, Ängste, Hoffnungen aus. Dieser Ausdruck kann stark, gewichtig und uns in seiner Tendenz bekannt sein, auch oder vielleicht gerade, wenn wir diese Geschichten nicht zu unserem Glaubensinhalt gemacht haben.

Der Tod als Strafe

Gehen wir zunächst von der in unserem Kulturkreis bekanntesten mythischen Welterzählung aus.
Gerade weil das Christentum seine Erlösungslehre an den Tod knüpft, findet sich im christlichen Mythos die Angst vor dem Tod betont.

Die christlich-jüdische Mythologie beginnt ihre Geschichte der Welt mit der Erschaffung derselben durch einen göttlichen Schöpfer: In Eden gegen Morgen pflanzt der Schöpfergott einen Garten, in dessen Mitte der Mensch, den er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, gesetzt wird. Die Welt, in der sich das erste Menschenpaar findet, kennt weder Übel noch Schmerz. Alle Wesen leben in völligem Frieden und einziger Harmonie. So jedenfalls scheint es...

Hieronymus Bosch hat Ende des 15. Jahrhunderts, vermutlich zwischen 1490 und 1500, sein berühmtes ausklappbares Triptychon »Der Garten der Lüste« gemalt. Die Aussenseite zeigt einen Zustand der Schöpfung, bei dem Land und Meer voneinander getrennt sind und die Erde bereits mit Pflanzen bewachsen ist, der Mensch aber noch nicht existiert. Der rechte Innenflügel zeigt eine Darstellung der Hölle, der Mittlere einen Lustgarten, in dem die Sünde der Wollust die Menschen in Besitz genommen hat. Hier soll es aber um den linken Innenflügel gehen, auf dem der Garten Eden zu sehen ist.
Auf den ersten oberflächlichen Blick scheint das Bild tatsächlich eine harmonische Szene darzustellen. Wir sehen in der unteren Bildhälfte Adam und Eva, nackt und sich ihrer Nacktheit nicht schämend, im vertraulichen Gespräch mit ihrem Schöpfer. Ringsherum erstreckt sich der Garten, in dessen Mitte sich ein Teich mit einem graziös, aber riesig anmutenden Brunnen befindet. Allerlei Tiere bevölkern die Gegend.
Wenn wir aber etwas genauer hinsehen, bemerken wir alsbald, dass es im Garten keineswegs so friedlich und harmonisch zugeht, wie wir zunächst angenommen haben. Die Berge im Hintergrund sind gigantisch und in ihrer dunklen Färbung und in ihren fantastischen Formen auch bedrohlich. Markieren sie bereits die Grenze des Paradieses, gehören sie bereits zum Bereich jenseits von Eden? Auch der finstere Tümpel in der unteren rechten Bildecke, dem allerlei Getier entsteigt, steht schon alleine wegen seiner Farbe im Kontrast zum hellen Blau des Teiches in der Mitte des Bildes. Wenn wir aber erst das Treiben der dargestellten Tiere genauer betrachten, bemerken wir, dass Gewalt und der Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens bereits in den paradiesischen Garten Einzug gehalten hat: Ein katzenähnliches Wesen hat sich ein kleines Tier geschnappt, das es nun zwischen die Zähne geklemmt davonträgt; ein Löwe weidet gerade eine erlegte Gazelle aus, ein Vogel verschlingt einen erbeuteten Frosch, dessen Hinterbeine gerade noch zu seinem dicken Schnabel hinauslugen...

Weshalb sind diese Details im Gemälde wichtig? In ihnen findet sich der Fortgang der jüdisch-christlichen Welterzählung bereits subvertiert oder zumindest auf eine Weise interpretiert, in der die Möglichkeit der reinen Harmonie in Zweifel gezogen ist.
Tatsächlich liegt über dem Garten Eben seit Anbeginn eine dunkle Drohung:
»Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.« (Genesis 2:16/17)

Selbstverständlich verstossen die Menschen gegen dieses Verbot. Die Schlange, die offenbar der Harmonie nicht traut oder sich ihr nicht verpflichtet fühlt, verführt zum Bruch mit dem Gebot des mächtigen Schöpfers und Herrschers über die Welt.
Das erste Menschenpaar wird aus dem Paradies gejagt und ist – jenseits von Eden – von nun an Schmerz, Leid und eben dem Tod ausgesetzt. Dessen Macht zeigt sich zuerst an ihren Kindern, als Kain seinen Bruder Abel erschlägt.
In seinem zwischen 1540 und 1542 entstandenen Gemälde »Kain und Abel« betont Tizian ganz den Gewaltaspekt dieser ersten Mordtat. Wir sehen Kain bedrohlich über seinen Bruder geneigt, den er mit seinem Fuss auf den steinigen Boden presst, während er mit beiden Händen ein grosses Felsstück hoch über den eigenen Kopf, in den von düsteren Wolken verhangenen Himmel hält, bereit mit ihm den Körper Abels zu zerschmettern. Dieser hält in einem ohnmächtigen Versuch, sich zu schützen, den linken Arm abwehrend gegen seinen Bruder. Eine blutende Wunde an seinem Kopf zeigt, dass er bereits von einem früheren Schlag schwer getroffen ist.
Die Gewalt, die sich in diesem Bild einen Ausdruck schafft, ist eine, die Wunden schlagen und eben töten kann. So lernen die Menschen den Tod kennen und, so bestimmt es die christliche Theologie, sein sich über die Erbsünde weiterreichendes Verhängnis bestimmt uns bis heute.

Der Tod wird also als Strafe für eine begangene Übertretung eingeführt und der erste Tod wird als brutaler Gewaltakt vorgestellt. Er gehört nicht von Anfang an zur Welt und ist nicht wesentlich Teil des Lebens. Vielmehr ist er das dunkle Verhängnis, das über diesem droht. Der Tod als Strafe ist ein Tod, den man fürchten muss, der über einen hereinbricht, der Ausdruck des Zornes eines allmächtigen Schöpfers.
Die Gleichsetzung des Herauswurfs aus dem Paradies mit der Begründung der Macht des Todes hat aber noch eine andere Stossrichtung: Die von Tod, Mühsal und Schmerz gezeichnete Welt steht im Kontrast zum harmonischen Stillstand des Paradieses. Diese Harmonie erscheint nun als vergangene und immer mehr auch in die Zukunft projizierte Utopie.
Die Vorstellung des verlorenen und wiederzugewinnenden Paradieses fügt sich auch nahtlos in die apokalyptisch-messianische Weltsicht des prophetischen Judentums und dann des Christentums ein.
Allerdings zeigen sich auch deutliche Unterschiede zwischen zumindest der frühen jüdischen und der christlichen Theologie. Während die moseaischen Bücher die Vertreibung aus dem Garten Eden hinnehmen und sich mit der Gesetzgebung in der einmal mit dem Tod verfluchten und problematischen Welt zufriedengeben, taucht schon bei den jüdischen Propheten das Versprechen einer möglichen Überwindung des Todes auf. Das Christentum errichtet seine Theologie dann ganz auf dieses Versprechen gestützt. Die Figur des fleischgewordenen Sohnes Gottes wird zum Erlöser aus dem irdischen Jammertal und Retter vor dem Schrecken des Todes. In ihm versprechen die Priester des Christentums dessen Überwindung. Die in ihrer Endlichkeit radikal problematische Existenz wird in einen Mythos des ewigen Lebens überführt, in dem das Diesseits nur als eine Art Prüfung für das eigentlich entscheidende Jenseits gesehen wird.
Die Kehrseite des versprochenen Heils ist die Abwertung der unter der Herrschaft des Todes stehende Welt; sie wird als elend, sinnlos, eitel erklärt.

Ein eindrückliches Beispiel einer solchen Abwertung des irdischen Lebens ist das Gedicht »Es ist alles eitel«, das Gryphius im 17. Jahrhundert verfasst hat:

•       Du siehst, wohin du siehst nur Eitelkeit auf Erden.

•       Was dieser heute baut, reist jener morgen ein:

•       Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein

•       Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden:

•       Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.

•       Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein

•       Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.

•       Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

•       Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

•       Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?

•       Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
    

•       Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;

•       Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind't.

        Noch will was ewig ist kein einig Mensch betrachten!


Es ist wichtig zu beachten, dass dieses Gedicht 1637, also während der Zeit des Dreissigjährigen Krieges verfasst worden ist. Es ist Zeugnis einer Welt, in welcher der Tod seine Herrschaft in alltäglicher brutalster Gewalt, die Menschen einander antun, vorführt.
Trotzdem wird aber auch eines deutlich: Angesichts einer irdischen Welt, in der die Vergänglichkeit alles Streben und Schaffen einholt, wird das Versprechen einer Überwindung des Todes und eines ewigen Friedens verführerisch.
Umgekehrt scheint angesichts der nichtenden Kraft des Todes die versprochene Erlösung auch reichlich aufgesetzt. Wenn im Tod sich alle Bedeutsamkeit des Irdischen verliert, wie kann dann gleichzeitig das irdische Handeln zum Prüfstein für das jenseitige Schicksal erklärt werden? Die Macht des Todes relativiert mit dem irdischen Streben auch alle irdische Moral – dass diese dann in einer überirdischen wieder aufgefangen werden soll, um dies zu akzeptieren braucht es dann wohl eben den Glauben, der bekanntlich selig macht.

Die Annahme ist wohl nicht ganz falsch, dass die wenigsten Leser_innen dieses Textes die christliche Mythologie wörtlich nehmen. Als aufgeklärte und im Anspruch rationale Menschen sind wir heute in einer eigentlich komfortablen Situation: Wir können uns einigermassen unbefangen mit allen möglichen Arten mythischer Welterzählungen befassen, ohne eine Diskussion über ihren objektiven Wirklichkeitsgehalt führen zu müssen. Sich aus dem Fundus solcher Erzählungen zu bedienen, bedeutet für eine unvoreingenommene Weltsicht einfach, sich mit traditionsreichen Versuchen, die Welt und die Existenz in Erzählungen zu bringen, zu beschäftigen und diese in ihrer Kraft und Wirkung für uns Menschen ernst zu nehmen.
Der Gehalt des Mythos liegt so in der in ihm zur Geltung kommenden Ausdruckskraft für menschliche Bedürftigkeiten, Ängste, Wünsche und Sehnsüchte. Seine Bilder sprechen zu uns auf eine Weise, die in ihrer Bedeutung offener, aber eben auch nuancenreicher, abgründiger, stimmungsvoller und wirkungsmächtiger sein kann als die in ihrer Verpflichtung gegenüber Rationalität und Klarheit oft eindimensional, stumpf und steril bleibende philosophische Reflexion.
Es ist hier nicht der entscheidende Punkt, ob es sich bei dem, was man die Wahrheit des Mythos nennen könnte, um existentielle Konstanten des Menschseins, also um so etwas wie C. G. Jungs Archetypen, handelt oder ob man die Mythen historisch betrachtet, als etwas also, worin die Menschwerdung bis zum heutigen Tag Spuren und Ablagerung hinterlassen hat, die wir mal bewusst und stolz, mal unbewusst und beschämt mit uns tragen. Wahrscheinlich ist beides nicht ganz falsch: Einerseits gehören zum Menschsein einige wesentlichen Merkmale, von denen wir nur abstrahieren könnten, wenn wir nicht mehr Menschen wären – etwas der Umgang mit unserer Endlichkeit, die Problematik des In-der-Welt-Seins, die Widersprüchlichkeit und Spannung des Lebens, die Perspektiviertheit allen Weltbezugs –, andererseits verbinden sich mit der Art, wie wir uns die Welt erzählt haben, Wertungen und moralische oder metamoralische Vorstellungen, die sich laufend verändern und verändert haben.

Die Sichtweise des Todes als ein Verhängnis, das über dem Leben liegt, findet jedenfalls im christlichen Mythos des Todes als Strafe einen durchaus gewaltigen Ausdruck.
Wir alle wissen, was Todesangst ist - und ich meine damit nicht eine hypothetische Situation, in der man sich mit einer Hand gerade noch an einen Felsvorsprung klammernd über einem Abgrund schwebt, sondern die Momente, in denen man nachts aufwacht und einem plötzlich die eigene Vergänglichkeit, das eigene Ende, das Nichts vor Augen steht und alles andere seine Bedeutung verloren hat.
Weit weniger zugänglich scheint mir dann aber die im Christentum vorgeschlagene Lösung oder eben Erlösung zu sein. Die Geschichte vom Sturz aus dem Paradies, welcher die Herrschaft des Todes begründet, setzt die Übertretung eines göttlichen Gebots als Ursprung aller Schrecken. Ungehorsam, also eben auch der Mut zum Konflikt, zur Auseinandersetzung, zum Streit, aber auch Dinge wie Neugier und selbstständiges Denken werden in einen kausalen Zusammenhang zur ersten Gewalttat gestellt: des Brudermordes von Kain an Abel.
Nun, wir Philosophen sind neugierige Menschen und ich denke, wir verstehen nur allzu gut, dass ein Baum der Erkenntnis zum Pflücken seiner Früchte einlädt. Das Verbot, dies zu tun, macht die Tat nur umso reizvoller.
Die Problematik, die sich zwischen Leben und Tod, auftut, ist gerade das Element der Philosophie. Wenn philosophische Reflexion nicht einfach Mittel zum Zweck ist, sondern an sich als eigenem Bedürfnis festhält, will der Philosoph tiefer in die Problematik hinein, nicht aus ihr herauskommen. Oder, um beim Mythos zu bleiben: Die Schlange ist dem Philosophen näher als der autoritäre Weltenherrscher...Und doch: Das Harmonieideal, das durch Tod, Gewalt und Streit gestört wird, bleibt der bestimmende Horizont, nach dem sich auch heute Wertvorstellungen und Moral ausrichten, auch wenn dieses Ideal sich nicht mehr direkt in religiösen Vorstellungen verankert sieht, sondern unter Formeln wie »ewiger Friede«, »universelle Gerechtigkeit«, »Klassenlose Gesellschaft« oder »Ende der Geschichte« gebracht wird. Meist versprechen solche säkularisierten Harmonievorstellungen nicht gleich die Überwindung des Todes, doch geht es in ihnen um die Minimierung von Spannungen und Konflikten und Vermeidung oder Überwindungen von Widersprüchen. Und immerhin der Sozialist Ernst Bloch tönt auch die Möglichkeit einer Aufhebung des Todes an, wenn er vom »Verschwinden des letalen Nichts im sozialistischen Bewusstsein« spricht und den Tod des »roten Helden« beschreibt als ein Eingehen in die »Seele der voraufscheinenden künftigen Menschheit« (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3. Band; Frankfurt a.M. 1977; S. 1378-1381).
Doch ist eine solche Utopie der Harmonie und Ordnung wirklich erstrebenswert?
In der Harmonie des Paradieses und des Lebens im Angesicht Gottes mag es keinen Tod geben, aber auch keinen Streit, keinen Widerspruch, keinen Konflikt und damit keine Spannung, keine Veränderung, keine Vielfalt, keine Bewegung. Keine Angst, kein Schmerz, keine Hoffnung, keine Lust. Das ewige Leben schafft sich als Leben ab. Die völlige Harmonie ist vom Nichts des Todes nicht zu unterscheiden.
Der Künstler Hieronymus Bosch hat das in seinem Bild schon gezeigt, wenn er die Gewalt ins Paradies schmuggelt. Ohne Konflikt gibt es auch keine Schönheit, ohne Spannung keine Geschichte...


Die Integration des Todes

Der Tod als Strafe und Gewaltakt ist aber nicht die einzige Todesvorstellung, die sich im Alten Testament findet. Von Abraham, Isaak und Hiob wird gesagt, dass sie alt und »satt an Tagen« starben.
In diesem Tod nach einem reichen Leben in hohem Alter ist die Vorstellung des natürlichen Todes ausgedrückt: »Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.«  (Prediger 12:7)

Der Tod muss also nicht als feindliches, von aussen als Strafe einem zustossendes Unglück verstanden werden. Er lässt sich auch als Resultat eines inneren Strebens, als etwas, das wesentlich zu uns als Menschen gehört, begreifen.
In der Vorstellung eines natürlichen Todes liegt ein Trost, für dessen Aktualisierung man nicht ein angebliches Jenseits bemühen muss. Der Prozess des Sterbens wird darin zu etwas, das aus einem selbst stammt. Etwas, das man gewissermassen will oder dem man sich zumindest nach einem langen und erfüllten Leben gerne anvertraut.
Noch in Sigmund Freuds Proklamation eines Todestriebes lässt sich eine solche versuchte Integration des Todes ins Eigene erkennen. Der Tod wird zum immanenten Prinzip.

Eine Integration des Todes in das eigene Streben zeigt sich auch im Phänomen der Todessehnsucht, die wohl den meisten von uns auch nicht ganz unbekannt sein dürfte.
Wie viele Male bin ich eingeschlafen, nachdem ich mich stundenlang mit Sorgen und Problemen gewälzt hatte, mit dem tröstlichen Gedanken des Fallens ins Nichts, der Sehnsucht endlich ruhen zu können, nicht im Schlaf, sondern im Sturz aus der Zeit.

Wenn man aber den Tod in den Lauf des Lebens oder den eigenen Willen, das eigene Streben integrieret, geht es dabei mehr um einen Umgang mit dem Gedanken an den Tod als einen Umgang mit dem Tod selbst. Auch in der Todessehnsucht oder im Todesstreben findet der Tod weder Sinn noch Gestalt. Es zeigt sich aber, dass in der Abgründigeit des Todes nicht nur Schrecken liegt, sondern sich daraus auch ein Sog entwickelt. Etwas, das uns anlockt, fasziniert, ein Geheimnis, etwas, dem wir uns anvertrauen mögen.

 

Bislang habe ich mich mit meinen Ausführungen im Bereich von Welterzählungen bewegt, die prinzipiell auf Anfang und Ende angelegt sind, in denen der Tod als Auslöschung des Lebens erscheint, sei diese nun gefürchtet oder sehnsüchtig antizipiert.
Dem messianisch-apokalyptischen Weltbild, dem alle drei der grossen monotheistischen Religionen mehr oder weniger zuneigen, stehen die zyklisch ausgerichteten Welterzählungen entgegen, wie sie in vielen polytheistischen Religionen bestimmend sind.
Der Tod wird dann als Ende eines Zyklus begriffen, dem eine neue Geburt folgt, in der das Weitergehen des Lebens garantiert ist.
Das heisst nicht, dass es in solchen mythologischen Welterzählungen keine apokalyptischen Vorstellungen gibt. Eine der ausdrucksstärksten Bilder des Weltuntergangs findet sich in den Völuspa, den Weissagungen der Seherin, die das erste von 16 sogenannten Königsliedern bilden, in denen zumindest Bruchstücke der nordischen Mythologie überliefert sind: Der Höhepunkt dieser Weissagungen bildet der Kampf zwischen den Göttern und den Riesen, in deren Verlauf Sonne und Mond von den Wölfen Skalli und Hati verschlungen werden und die Sterne vom Himmel fallen. Ein anderer Wolf, der Fenris-Wolf, der lange Zeit wegen seiner Gefährlichkeit von den Göttern mit magischen Fesseln gefangen gehalten worden war, befreit sich und verschlingt Odin, den Schöpfergott.
Ein unglaublich starkes Bild für den Tod als das, was in seiner Absolutheit sich aller Fassbarkeit entzieht.
Doch damit ist eben die Geschichte nicht abgeschlossen. Die Völuspa enden nicht mit dem Tod der Götter. Aus der Vereinigung von Ordnung und Chaos, so heisst es, entsteht ein neues Gleichgewicht, und der wiedergeborene Odin erschafft eine erneuerte Welt.
Es gibt kein Ausserhalb des Weltenlaufs, auch die Götter sind einem zyklischen Werden und Vergehen unterworfen. Der Tod geht dann ein in den Lauf der Natur, jedes Sterben ist auch eine Geburt.
Im zyklischen Weltbild findet sich der Trost über den Tod nicht in seiner heilsgeschichtlichen Überwindung. Vielmehr geht es um dessen Einbettung in den natürlichen oder schicksalhaften Gang der Dinge. Es ist dies eine Auffassung vom Tod, die sich in säkularisierter Form bei Heraklit, Giordano Bruno, Leibniz und, wenn man will, sogar in Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr findet.

Die zyklisch ausgerichteten Welterzählungen sind lebensnaher, denn sie messen Leben und Existenz nicht an einem paradiesischen Ideal vollkommener Harmonie, sondern betonen gerade das Widersprüchliche, Problematische, Spannungsgeladene als Bedingungen der Existenz. In ihren Bildern wird das Widersprüchliche und wesentlich Problematische im Verhältnis von Leben und Tod betont, ohne diese Spannung in eine sie aufhebende Synthese überzuführen. Im Gegenteil erscheint hier die Problematik in der Welt als Bedingung des Lebens.
In der Erzählung der ewigen Wiederkehr, um hier Nietzsches Ausdruck zu verwenden, liegt der Versuch des Lebens, den Tod in seinen Lauf zu integrieren. Doch was vom Leben als einem allgemeinen, überindividuellen Prinzip durchaus sinnvoll gesagt werden kann, betrifft nicht den Einzelnen in seiner Existenz, in seinem existentiellen Sein zum Tode.
Mag der Tod zum Lauf des Lebens gehören, die Verbrüderung des einzelnen Lebendigen mit dem Tod scheitert – am Tod.


Der Tod als Abgrund

Wenn der Tod in grössere Erzählungen gebracht wird, sehen wir das prinzipiell gleiche Muster sich wiederholen. Es finden sich Bilder und Begrifflichkeiten, in denen sich etwas von der Unfassbarkeit und Undenkbarkeit des Todes in ihrem Ausdrucksgehalt bewahrt. Diese Bilder werden dann aber in Sinnzusammenhänge gestellt, in denen – um wieder mit einem Bild zu sprechen – der Abgründigkeit des Todes letztlich ausgewichen wird.
Auch die philosophische Auseinandersetzung mit dem Tod mündet fast immer in den Versuch, mit dem Tod leben zu lernen oder – wie Michel de Montaigne in Anlehnung an Palton und unter Berufung auf Horaz es ausgedrückt hat –: »Philosophieren heisst, sterben lernen.« (»Que philosopher, c'est apprendre à mourir« (Michel de Montaigne: Essais I, 20; S. 81))
In lebenspraktischer Hinsicht wird mit dem Tod ein Umgang gesucht, sei es als etwas Zu-Fürchtendes, als etwas Ersehntes, als etwas, das es stoisch zu ertragen gilt oder – wie Epikur vorgeschlagen hat – als etwas, das uns im Leben ohnehin nichts angeht. Der Tod selbst aber scheint sich aller Reflexion auf ihn zu entziehen.

Eine Ausnahme – sicher nicht die einzige – bildet vielleicht Martin Heidegger. In seiner Vortragsreihe über den Satz vom Grund geht der bereits ältere Heidegger, wie der Titel der Vorlesung schon sagt, dem Satz vom Grund nach. Dieser besagt: Nichts ist ohne Grund. Oder, positiv formuliert: Jedes Seiende hat notwendig einen Grund.
»Das menschliche Vorstellen trachtet in all dem, wovon es umgeben ist und angegangen wird, nach Gründen, oft nur nach den nächstliegenden, bisweilen auch nach den weiter zurückliegenden Gründen, schließlich aber nach den ersten und letzten Gründen.« (Martin Heidegger, Der Satz vom Grund; ders., Gesamtausgabe Bd. 10; S. 3)
Heidegger zeigt dann, wie in der rational gedachten Wirklichkeit jedes Seiende in einem anderen Seienden seinen Grund findet. Verallgemeinert gesagt: Zum Sein des Seienden gehört dergleichen wie Grund. Dieses Sein des Seienden selbst aber bleibt ohne Grund, denn es gehört selbst nicht in den Begründungszusammenhang, in dem jedes Seiende steht. Oder wie Heidegger sagt: »Der Grund bleibt ab vom Sein. Im Sinne solchen Ab-bleibens des Grundes vom Sein "ist" das Sein der Ab-Grund.« (ebd.; S. 76/77)
Gegen Ende des letzten Teils seiner Vortragsreihe spricht Heidegger dann vom Spiel, in das wir Menschen gebracht sind, ein Spiel, in dem wir nach Gründen suchen. Der Tod aber als Abgrund des Daseins, lässt sich mit dem Ab-Grund Sein in Beziehung setzen.
Vielleicht lässt sich so in Anlehnung an Heidegger sagen: Der Tod ist kein Seiendes, das uns begegnen kann, mit dem wir in einen Umgang treten können, aber im Sein ist er als Abgrund immer schon anwesend.

Zwei in mancher Hinsicht gegensätzlichen Bilder des Todes oder genauer gesagt des Sterbens sollen am Schluss dieses Textes stehen.
Ingmar Bergmans »Viskningar och rop« (d: »Schreie und Flüstern«) stellt den Todeskampf einer jungen, unheilbar kranken Frau dar. Der Film fokussiert auf den Schmerz des Todeskampfes, die panische Angst und die Zuckungen der Agonie. Das als körperliche Erfahrung betonte Sterben der jungen Frau ist in seiner Wirkung auf den Zuschauer fast unerträglich. Die vielen Grossaufnahmen des Gesichts der leidenden Frau erzeugen eine Atmosphäre, in der Schmerz, Agonie und Tod zum Greifen nahe scheinen. Bei aller Intensität aber bleibt das Erfahrene unkörperlich. Wir können die Körper im Filmbild nicht anfassen. Der Körper im Schmerz scheint real und gerade dieses Scheinen macht den Verlust des Taktilen zu einem Moment der Entfremdung. Entfremdung als ästhetische Erfahrung, wie wir sie vielleicht vor allem in der intensiven Wirkungsmacht von Filmen erleben können, hat zu ihrem Gehalt das Eigene als fremd und das Fremde als eigen zu erleben. Wir sind bei uns und nicht bei uns. Das, dem wir uns anvertrauen, wird in der Intensität des Erlebens zur eigenen Erfahrung und bleibt uns doch fern, unzugänglich, fremd.
Wir sehen den Tod im Film, aber wir können ihm nicht die Hand geben.

Auf dem Friedhof im Stadtviertel El Poblenou der katalanischen Hauptstadt Barcelona findet sich eine Skulptur auf dem Grab des katalanischen Textilfabrikanten Josep Llaudet i Soler (1879–1955). Der als Gerippe mit riesigen Flügeln dargestellte Tod beugt sich über einen am Boden knienden Mann mit schlaff herunterhangenden Armen, den Kopf in den Nacken gelegt, den Kuss des Todes erwartend.
Der Moment des Todes wird hier als Umarmung dargestellt. In der Darstellung des sterbenden Mannes liegt nicht nur Resignation und Akzeptanz, sondern sogar so etwas wie Verlangen nach der Umarmung, dem Kuss des Todes. Dieser ist als geflügeltes Gerippe dargestellt und durchaus furchteinflössend. Seine fast fürsorglich über den Mann sich neigende Haltung steht zu diesem Aussehen in klarem Kontrast. So sind im Bild Schrecken und Verlockung des Todes, Verlangen und Hingabe in eine einzige Bewegung gebracht.
Man fühlt sich an Novalis erinnert, der den Tod das romantiserende Prinzip genannt hat.
Erotisches Streben und Todesstreben rücken zusammen, denn Sexualität und Tod sind verbunden, in der ihnen gemeinsamen transzendierenden Erfahrung der Steigerung der Individualität im Moment ihrer Aufhebung.

Wenn wir die Welt um uns nicht einfach als eine objektiver Erkenntnis, sondern in ihrer Ästhetik wahrnehmen, dann liegt in ihren Phänomenen stets auch etwas geheimnisvoll Anderes. Etwas, das sich aller Deutung entzieht, ohne dass wir dieses Mehr in einen Sinn- oder Wertzusammenhang stellen könnten oder wollten. In der Sterbeszene aus Bergmanns »Schreie und Flüstern« liegt nicht nur die existentielle Angst und der körperliche Schmerz in der Agonie, sondern auch die im äussersten Schrecken erlebte Gewalt des Todes selbst. Umgekehrt findet sich in der Darstellung des Todeskusses nicht nur die Umarmung des willkomengeheissenen Todes, sondern in der dargestellten Todeserotik waltet auch der Sog des gänzlich Unbekannten, Unnennbaren, Undenkbaren. In dieser Spannung entfaltet sich uns der Tod als Abgrund des Lebens. Der Abgrund, mit dem es keinen Umgang gibt, denn wir begegnen ihm nie, der Abgrund der Undenkbar und Unfassbar bleibt, der Abgrund aber, der zugleich immer schon mit uns ist, unsere Existenz mitbestimmt. So lässt sich in den Zwischenräumen der Wirklichkeit, im Moment zwischen zwei Herzschlägen, im Aussetzen der Musik zwischen zwei gespielten Noten, in der Leere zwischen zwei Gedanken eine Anwesenheit der Abwesenheit erahnen, in die wir einmal, gewaltsam oder friedlich, aus unserer Welt fallen werden.

In seiner Spannung zum Leben gibt der Tod dem Dasein erst die Problematik, die unsere Existenz ausmacht. Erst der Tod reisst den Menschen aus dem Nichts der Harmonie. Umgekehrt ist es aber auch erst das Leben, das den Tod dem Nichts entreisst. Erst in seiner Spannung zum Leben erhält der Tod seinen Platz in unserer Existenz. Als Abgrund derselben entzieht er sich aber selbst jeder Erkenntnis, Deutung oder Sinngebung.